Maximale Reibung. Null Beschleunigung.
"Am Erzberg gelten andere Gesetze." Diese These stimmt für Vieles am langen Erzberg-Wochenende. Die physikalischen Gesetze aber werden auch am eisernen Berg nicht neu geschrieben. Wäre das möglich, so müsste man eine Light-Version entwickeln, die unter anderem die Fall-Gesetze nicht ganz so streng nimmt. Denn die spezielle Topografie des 'Hare Scramble' lässt das Fenster des physikalisch Möglichen stellenweise sehr, sehr klein werden. Nur ein Zentimeter Körperneigung oder ein unmerklich zu langer Gasstoß können über Auffahrt oder Abflug entscheiden. Die dafür verantwortlichen physikalischen Gesetze hat Sir Isaac Newton vor mehr als 300 Jahren errechnet und definiert. Wie gnadenlos die Physik ist, erklärt der Physiker und Sportwissenschafter Martin Apolin am Beispiel 'Steilauffahrt'.

Unser Weg zur ersten Steilauffahrt beginnt mit einem Wheely auf flacher Bahn. Der Gasstoß sorgt für Beschleunigung, diese Kraft wirkt parallel zur Fahrbahn: "Das ist das eine Drehmoment, das hier wirkt", sagt Martin Apolin: "Für ein zweites Drehmoment sorgt die Gravitation, also die Erdanziehung. Und zwar für ein Drehmoment, das das Vorderrad wieder nach unten zieht." Diese beiden Drehmomente müssen sich die Waage halten. Und damit der Wheely Bestand hat, sollte der Schwerpunkt von Mensch und Maschine über dem Bereich liegen, an dem das Hinterrad auf der Fahrbahn aufsetzt. Wird man in dieser Lage langsamer, so wandert der Schwerpunkt nach vor, die Gravitation gewinnt und zieht das Vorderrad zu Boden (Variante 1). Beschleunigt man dagegen zu rasant, so verschiebt sich der Schwerpunkt im Rücken des Fahrers hinter den Aufsetzpunkt des Hinterrades (Variante 2) – auch hier gewinnt die Gravitation, diesmal packt sie aber von hinten zu. Diese Art des Abstiegs ist ungleich effektvoller und dennoch nicht so beliebt wie Variante 1.

Der Erzberg engt die Grenzen des physikalisch Möglichen extrem ein.

Der entscheidende Punkt ist also der Schwerpunkt – der sich für eine stabile Fahrt jedenfalls zwischen den Aufsetzpunkten des Vorderrades und des Hinterrades befinden muss. Das ist im Flachen (von oben gesehen) ein knapper Meter. Mit diesem Wissen im Hinterkopf fahren wir in den ersten Steilhang, kippen das Flache sozusagen bergwärts und stellen fest, dass (von oben gesehen) die Linie zwischen vorderem und hinterem Aufsetzpunkt immer kürzer wird. Der Schwerpunkt droht viel schneller hinter das Hinterrad zu rutschen. Bei den Steigungsgraden, die der Erzberg bietet, kann der Spielraum für die Piloten da bisweilen s e h r eng werden, sagt Martin Apolin.

Mensch, Maschine und die wirkenden Kräfte bilden beim 'Hare Scramble' ein höchst fragiles System.

"Aus physikalischer Sicht kommt es oft vor, dass das System aus Mensch, Maschine und den wirkenden Kräften bei einer sehr steilen Auffahrt stabil ist, bis eine Kleinigkeit etwas ändert in diesem System", sagt Physiker Apolin: "Zum Beispiel, weil das Motorrad durch einen Fels am Vorderrad in die Federn geht und langsamer wird. Dadurch verliert das Hinterrad an Haftreibung. Der Pilot versucht jetzt, sein bis dahin funktionierendes Auffahrts-System mit einem Gasstoß zu retten: viele geben da aber zu viel Gas, die Vortriebkraft wächst mehr als gut ist und der Schwerpunkt verschiebt sich zu weit nach hinten. Das sind dann die Aufnahmen, bei denen sich das Bike im Steilhang kerzengerade in die Luft verabschiedet." Zu viel Gas, um die Situation zu retten, kann aber auch genau das Gegenteil bewirken, sagt Martin Apolin: "Durchdrehende Reifen bauen keine Reibung auf. Ein Reifen, der sich ohne Haftreibung einfach durchdreht, gräbt sich bestenfalls ein."

Graham Jarvis mit maximal möglicher Reibung am Hinterrad. Newton findet das gut.

Sir Isaac Newton würde wohl raten, das Gewicht möglichst hinten und einen möglichst weichen Hinterreifen zu haben. Und er sähe die größten Erfolgsaussichten wohl, wenn man die Auffahrt mit maximalem Grip und konstanter Geschwindigkeit angeht. Die Faustregel, bei einer Auffahrt schon unten so schnell zu sein wie man oben ankommen will, die gilt auch in Newtons Welt. "Physikalisch ist im Grunde jede Beschleunigung potentiell gefährlich bei derart gerölligen Steilauffahrten", sagt Martin Apolin.

"Diese Sportler haben ein extrem ausgeprägtes Sensorium". Jonny Walker bei der Arbeit.

Doch auch Newton würde nur den Kopf schütteln angesichts der Leistungen, die die hard-enduristiusche Oberliga rund um Graham Jarvis, Jonny Walker & Co alljährlich am Erzberg zeigt. Nicht, weil sie den Gesetzen der Physik enteilen, sondern weil sie ihr Bike trotzdem über 'Carl's Dinner', 'Roof' und 'Dynamite' ins Ziel bringen. Der Physiker Martin Apolin erklärt sich das auch mit seinen Erfahrungen als Sportwissenschafter: "Bis zu einem gewissen Grad kann man sich das anlernen. Aber diese Sportler haben ein extrem ausgeprägtes Sensorium dafür. Sie haben einfach im Gefühl, wie sie sich auch in diesen extrem engen physikalischen Grenzen bewegen können. Ich denke, das ist das, was man Talent nennen kann."

Von der Startordnung zur Unordnung: Entropie zeichnet den Weg aller Dinge vor.

Ein physikalisches Talent eint alle Erzberg-StarterInnen. Wenn sie aus der Startordnung in die erste Auffahrt krachen, dann bestätigen sie eindrucksvoll den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, dass nämlich alle physikalischen Systeme nur in eine Richtung drängen – zur Unordnung. (c. panny, hubert lafer)

Zur Person:

LINK: Infos zu Martin Apolin und seinem Buch beim Ecowin-Verlag

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